Neulich kam im Unterricht die Frage auf, weshalb einige klassische Ausbilder meinen, dass der Galopp erst erarbeitet werden soll, wenn das Pferd Renvers und Travers in Schritt und Trab unter dem Reiter sicher beherrscht.
Die Ausbilder, um die es dabei in erster Linie geht, sind alte Bekannte: De la Guérinière ist einer von ihnen und auch Gustav Steinbrecht vertrat, je nach Pferdetyp, Interieur und Exterieur, diesen Ansatz.
Das Thema ist spannend, weil etwas komplizierter: Es geht um Fußfolgen, Gleichgewicht, Schiefe und die richtige Gymnastizierung des Pferdes. Kurzum: es geht eigentlich genau um das, was Dressur eigentlich ist und wofür sie da ist.
Um das Thema ganz genau erklären zu können, habe ich mich selbst noch einmal mit Richard Hinrichs, Dominique Belaud, Dr. Thomas Ritter und Johannes Beck-Broichsitter darüber unterhalten. Bei ihnen möchte ich mich hier an dieser Stelle schon mal ganz herzlich für Ihre Erklärungen bedanken.
Seitengänge- was ist das eigentlich?
Um dahinter zu kommen, was die klassischen Ausbilder meinen, muss ich erst einmal auf die verschiedenen Seitengänge und ihren gymnastischen Nutzen eingehen. Wer sich noch genauer mit der Materie beschäftigen möchte, dem empfehle ich am Ende dieses Artikels einige Bücher, die sich ausgiebig mit den Seitengängen und ihrer Erarbeitung sowie mit dem Galopp beschäftigen. Besonders hervorheben möchte ich jetzt schon das Buch „Seitwärts unterwegs“ von Johannes Beck-Broichsitter, das im CADMOS Verlag erschienen ist. Es ist eins meiner absoluten Lieblingsbücher, weil es alle Seitengänge sehr anschaulich und ausführlich beschreibt und sich dabei nicht in irgendwelchen komplizierten „Links-Rechts“-Erklärungen verliert (ja ich habe da so meine Probleme. Mir persönlich ist beim Reiten „innen und außen“ als Beschreibung sehr viel lieber, um schnell nachvollziehen zu können, was ich machen muss. Außerdem bin ich selbst ein Mensch, der viel über optische Eindrücke erschließt. Herrn Beck-Broichsitter ist diese Verständnis-Problematik durch jahrelange Arbeit mit Reitschülerinnen und Traineranwärterinnen durchaus bekannt, wie ich im Trainerlehrgang bei ihm erfahren durfte. Daran liegt es sicher, dass er diese Dinge in seinem Buch so besonders verständlich und hübsch und auch mit anschaulichen Bildchen erklärt.).
Zu den echten Seitengängen gehören Schulterherein, Konter-Schulterherein, Renvers und Travers sowie Traversalverschiebungen. In den Seitengängen ist das Pferd gestellt und gebogen und bewegt sich auf drei oder vier Hufspuren „in einer ständigen Vorwärts-Seitwärts-Bewegung in Versammlung“ (aus Johannes Beck-Broichsitter, Seitwärts unterwegs, CADMOS). Man unterscheidet zwischen unterschiedlichen Abstellungswinkeln.
Trabstellung und Galoppstellung
Manche von Euch haben vielleicht schonmal was von der Trabstellung und der Galoppstellung gehört. Diese Bezeichnungen wurden von Gustav Steinbrecht in seinem Werk „Gymnasium des Pferdes“ verwendet und werden heute nur noch selten benutzt. Unter der Trabstellung verstand Steinbrecht das Schultervor. Mit der „Galoppstellung“ bezeichnete er das „In Stellung reiten“.
Aber warum nannte er diese beiden Lektionen so und was haben sie mit Renvers und Travers zu tun?
Streng genommen sind „Schultervor“ und „In Stellung reiten“ keine Seitengänge. Sie sind, sagen wir mal „die kleinen Schwestern“ von „Schulterherein“ und „Travers“. Das Schultervor ist quasi eine Vorübung für das Schulterherein. Statt auf drei oder vier Hufspuren, bewegt sich das Pferd weiterhin auf zwei Hufspuren. Das innere Hinterbein tritt dabei aber vermehrt unter den Schwerpunkt in Richtung zwischen die Vorderbeine. Das innere Hinterbein wird also zu vermehrtem Schub angeregt. Dieser ist aber noch nicht so stark wie beim später gerittenen Schulterherein, weswegen sich das Schultervor hervorragend zur schonenden Vorbereitung des jungen Pferdes auf das Schulterherein eignet. Weil das Schulterherein eine diagonale Fußfolge wie im Trab fördert, da hier das innere Beinpaar vorwärts und seitwärts tritt, nennt Steinbrecht die Vorstufe des Schulterhereins- also das heute so genante Schultervor auch „Trabstellung“.
Beim „In Stellung reiten“ ändert sich die Bewegungsrichtung der Hinterbeine: Wie später im Travers, wird hier das äußere Hinterbein zur vermehrten Schubaufnahme angeregt. Aber wie beim Schultervor, fußt das Pferd auch bei dieser Lektion nicht auf vier Hufspuren wie es im Travers üblich wär. Es wird lediglich das äußere Hinterbein zur vermehrten Schubaufnahme durch stärkeres „unter den Schwerpunkt treten“ angeregt. Bei dieser Lektion wird ein Betrachter von vorne das äußere Hinterbein zwischen den Vorderbeinen erkennen können.
Dr Thomas Ritter erklärt in seinem Buch „Klassisches Reiten auf Grundlagen der Biomechanik“:
„Vom allgemeinen, systematischen Standpunkt aus gesehen kann man festhalten, dass das Hinterbein, das im Seitengang übertritt, das vermehrt schiebende ist, wohingegen das gegenüberliegende Hinterbein, das sich im Augenblick des Kreuzes am Boden befindet, das die Last vermehrt stützende ist. Das ist für den praktischen Reiter aus folgenden Gründen von größter Bedeutung: In den schulterhereinartigen Seitengängen ist der äußere Hinterfuss der vermehrt tragende, während der innere Hinterfuss der vermehrt schiebende ist. In den traversartigen Seitengängen ist der innere Hinterfuss der vermehrt tragende, während der äußere Hinterfuss der vermehrt schiebende ist.“
— Dr. Thomas Ritter
Die großen Schwestern: Renvers und Travers
Wenn man nun also weiter nachdenkt, leuchtet es ein, dass Renvers und Travers, als weiterführende Schwester-Übungen des „In-Stellung-Reitens“ den Galopp weiter fördern und vorbereiten. Im Travers wird das äußere Hinterbein wie beim Angaloppieren in die Lage gebracht, vermehrt vorzugreifen. Das Pferd findet daher in dieser Stellung leichter die richtige Fußfolge zum Angaloppieren. Warum das so ist? Ganz einfach: Der Galopp wird in der Fußfolge vom äußeren Hinterbein eingeleitet. Das innere Hinterbein nimmt in der nächsten Galoppphase vermehrt Last auf, wie auch im Travers.
Noch weiter gedacht, ist es dann auch nur noch ein kleiner Schritt, zu verstehen, warum es durchaus Sinn macht, fliegende Galoppwechsel in der späteren Ausbildung durch ein Renvers einzuleiten. Dadurch, dass im Wechsel vom Handgalopp zum Renvers das vorschiebende Hinterbein wechselt, springt so das Pferd automatisch mit der Hinterhand zuerst um.
„Das wirkliche, auf dem richtigen Schulterherein gegründete Renvers ist hingegen in allen seinen Abstufungen eine ebenso schöne als wirksame Übung für das Pferd. Es findet seine vollständige Erklärung durch die Bezeichnung Konter-Travers und ist dem Schulterherein insofern verwandt, als bei beiden die Hinterhand auf den äußeren Hufschlag gerichtet ist, insofern aber entgegengesetzt, als die Biegung im Renvers in der Richtung der Fortbewegung des Pferdes genommen wird, wodurch sie der Seitwärtsbewegung der Kruppe entgegenwirkt. Hierdurch gibt diese Lektion, ebenso wie das Travers, dem Reiter eine große Gewalt, das innere Hinterbein durch den Grad der Biegung- sofern diese nämlich richtig ist- überwachen zu können. Da das Renvers denselben starken Grad von Versammlung erfordert wie das Travers, und die stark belastete Hinterhand dennoch räumiger treten muss als die auf die innere Linie gerichtete Vorhand, so erfordert es lebhaftes und kräftiges Arbeiten der Hinterbeine.“
— Gustav Steinbrech, Gymnasium des Pferdes
„Namentlich muss der Reiter sich vor der Galopparbeit bemühen, auch in dieser Lektion (Anm. der Autorin: Er spricht hier über die verschiedenen Abstellungen des Renvers), den Trab sicher zu begründen. Er erinnere sich dabei stets, dass sowohl die Trab- wie die Galoppstellung ihren Namen von der Verwandtschaft mit den betreffenden Gangarten haben, und dass daher eine wahre Prüfung der in diesen Grundgangarten gewonnenen Sicherheit nur in der umgekehrten Anwendung beider Lektionen liegen kann. Ich kann es nicht oft genug wiederholen, dass ebenso wie der Galopp an Vollkommenheit gewinnt, je mehr er sich der Trabstellung nähert, so auch der Trab sich verbessert, je sicherer er in den Travers und Renvers-Stellungen ausgebildet ist. Der beste Beweis dafür, dass der Galopp nicht zu frühzeitig, zu überwiegend oder falsch geübt wurde, ist immer die Tatsache, dass er der Trabbewegung in jenen Lektionen nichts von ihrer Frische und Reinheit geraubt hat.“
— Gustav Steinbrech, Gymnasium des Pferdes
„Eine Regel, die von allen geschickten Reitern beobachtet wird, ist: dass man niemals eher ein Pferd in Galopp setzen muss, bis es durch den Trab so gelenks gemacht ist, dass es sich von selbst, ohne in die Hand zu drücken oder zu ziehen, zum Galopp zeigt; man muss demnach warten, bis sein Körper biegsam ist, bis es in der Schule Schulter einwärts seine Schenkel zirkelförmig zu bewegen gelernt hat, bis es der Schule Kruppe an die Mauer (Renvers), den Schenkeln folgt, und bis es durch den stolzen Tritt (Piaffe) in den Pilaren leicht geworden ist. Sobald es zu diesem Grad von Gehorsam gekommen ist, so bedarf es nur geringer Hülfe, um es in den Galopp zu bringen, und es wird dieses mit Vergnügen tun.“
— Francois Robichon de la Guérinière
De la Guérinière ging noch weiter: Er empfahl, das Pferd im Schulterherein zu galoppieren, um seiner natürlichen Schiefe entgegen zu wirken. Die positive Wirkung des Schulterhereins im Galopp erklärt er dadurch, dass das Pferd durch diese Lektion lernt, sich weiter in den Hanken zu setzen. Dadurch wurde ein schön gesetzter Bergaufgalopp trainiert, der nicht möglich wäre, wenn das Pferd, wie es viele Pferde tun, das innere Hinterbein weit nach vorne setzt und damit von der Linie des Vorderbeins abweicht.
Geduld mit der Muskulatur von jungen Pferden
Jedem jungen Pferd sollte man also die Zeit geben, die Muskulatur der Hinterhand für einen getragenen Galopp zu trainieren. Immer sollte der Reiter im Hinterkopf haben, dass jeder Sprung zuviel die Losgelassenheit und die Motivation des Pferdes beeinträchtigen kann. Ein verspannter Galopp hat keinen gymnastischen Nutzen für das Pferd und ist unbequem zu sitzen. Außerdem birgt ein Zuviel immer die Gefahr, dass wir durch die entstehenden Verspannungen eher mit Rückschritten kämpfen müssen, als mit einem Fortschritt in der Arbeit.
Steinbrecht weist in seinem Werk darauf hin, dass die alten Meister schon erkannt hatten, dass die Reinheit des Travers im Trab überprüft werden müsse und sie den Galopp zur Probe des Schulterhereins nutzten. So wurde der Galopp nicht im Travers geritten, bevor der Reiter nicht das innere Hinterbein durch gezieltes Travers in einem reinen und versammelten Trab vollkommen beherrschte. Steinbrecht erinnert hier auch noch einmal ganz explizit, dass der Reiter den Abstellungsgrad von Schulterherein und Travers immer an den möglichen Versammlungsgrad und Trainingsstand seines Pferdes anpassen muss. Je höher die Abstellung, desto höher die Versammlung in den Seitengängen, da durch die Biegung und Stellung vorne, hinten die Beine dazu veranlasst werden, kürzer zu treten, da der Weg, den die Hinterhand auf der Linie zurücklegt kürzer ist als der der Vorderhand.
Dr. Thomas Ritter schrieb mir zu diesem Thema noch:
„Steinbrecht hat durchaus recht, mit dem, was er sagt. Der Galopp hat in Fußfolge und Stellung eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Kruppeherein. Daher sieht man so viele Pferde, die im Galopp mit der Kruppe nach innen ausweichen und auf drei Hufschlägen galoppieren. Gibt man dem Pferd eine Schultervorstellung im Galopp, ist es besser geradegerichtet. Im Trab weichen viele Pferde auf Grund ihrer Schiefe gerne im Kruppeherein und in der Traversale in den Galopp aus. Das ist dann immer auch ein Zeichen einer gewissen Undurchlässigkeit, die wieder in engem Zusammenhang mit der Schiefe steht. Bleibt das Pferd in den traversartigen Seitengängen im Trab, ist das ein ganz gutes Zeichen.De la Guérinière empfiehlt, mit der Galopparbeit so lange zu warten, bis das Pferd alle Seitengänge im Trab, sowie Piaffe und Passage beherrscht – wahrscheinlich ein Indiz dafür, dass die Pferde seiner Zeit keine gute natürliche Galoppade hatten und viel Zeit und Mühe kosteten, bis sie sich im Galopp ausbalancieren konnten.“
— Dr. Thomas Ritter
Ihr seht also: Dieses komplexe Thema ist durchaus essentiell für die Ausbildung unserer Pferde und wird zu Unrecht häufig vernachlässigt. Hat man das Prinzip und die biomechanischen Gründe für die gymnastizierende Wirkung der Trab- und der Galoppstellung und damit auch von Schulterherein, Renvers und Travers aber erst einmal durchschaut, ist das Vorgehen sehr logisch und es erleichtert bei konsequenter Anwendung die Ausbildung des Pferdes enorm.
Buchempfehlungen:
Johannes Beck-Broichsitter: Seitwärts unterwegs, CADMOS
Dr Thomas Ritter: Klassisches Reiten auf Grundlage der Biomechanik, CADMOS
F.R. de la Guérinière: Reitkunst
Gustav Steinbrecht: Gymnasium des Pferdes, FN Verlag
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